Kunst Essay
I. Gott und Schönheit
Schon als Kind hörte ich die ganze Zeit: Das wichtigste im Leben sei es, zu heiraten, ein eigenes Zuhause zu haben und Kinder zu kriegen. Ein eigenes Zuhause wollte ich auch tatsächlich sehr – danach sehnte ich mich, als ich noch bei oma lebte. Doch zuerst musste ich ja heiraten. Denn nur ein Mann kann alles besorgen, was ich brauche. Ich beschloss, dass mein Mann groß und stark sein muss, allsehend und allmächtig – wie denn auch sonst? In der Ecke in Omas Küche hing das blumengeschmückte Bild eines schönen Mannes. Oma sagte, das sei eine Ikone Jesu. Der Sohn Gottes würde mich immer beobachten, mich lieb haben und beschützen. Aber sieht Er mich auch, wenn ich in einem anderen Zimmer bin? Oder draußen? Diese Nachricht überraschte mich doch sehr – war ich also niemals allein? Na gut, dachte ich, wenn Er sowieso immer da ist, mich lieb hat und beschützt, dann kann ich Ihn ja heiraten, wenn ich groß bin. Immer, wenn ich einen verstohlenen Blick auf die Ikone warf, sah ich – wo auch immer ich bin, Er schaut genau in meine Richtung.
Das war mir etwas peinlich, vor allem in der ersten Zeit, nachdem ich gelernt hatte, dass Er immer zusieht. Ich bemühte mich, brav zu sein: ließ oma mir die Haare kämmen und den Pony schneiden, wusch mir ganz von allein die Hände. Über den Sommer gewöhnte ich mich aber mit meiner Fragerei über Gott in Ruhe. Mit anderen darüber zu reden, hatte sie mir verboten. Ich wollte aber wissen, wie ich von oben aussehe – ich wollte mich mit Seinen Augen sehen. Also lernte ich fliegen. Ich blickte die welt von unten an, als Kind, und von oben, als korperloses wesen. Ich wusste nicht genau, wo noch ich bin, nicht mehr. So lebte ich, zwiegespalten, und füllte die Leere mit schönheit.
Im Sommer fand ich Schönheit auf der Straße – in Blumen und Kieselsteinen, in buntem Glas und in den Geschirrscherben auf der Müllhalde. Die Müllhalde im Dorf war mein Lieblingsort – dort entdeckte ich unter all dem Müll unzählige Schätze verlorener Schönheit. Im Herbst trocknete ich bunte Blätter. Im Winter, wenn Schönheit Mangelware war, malte ich sie selbst. Im Frühling bestand die Schönheit aus klirrenden Eiszapfen und roten Gummistiefeln, aus dünnem Eis auf Pfützen und aus langen Bächen, auf denen Stöckchen als Schiffe schwammen.
Schönheit ist, wenn du keine Worte mehr findest. Wenn das Herz nicht in deine Brust passt und du in Milliarden von Partikeln explodieren möchtest, um jedes Detail in dich aufzunehmen, um nichts zu verpassen. Wenn du das Leben um dich herum wimmeln siehst und dich darin wohl fühlst. Du atmest – du atmest – du atmest. Du leckst eine gefundene Glasscheibe ab, reibst sie am Saum deines neuen Kleides, und dann schaust du auf die grüne Sonne, und dein Herz setzt aus vor Staunen. Schönheit ist, wenn du dich in den Klängen des Lebens auflöst, in seinem geheimnisvollen Schatten ertrinkst. Wenn du in der Sonne mit dem Schnee mit schmilzt, dich freudig in eine Pfütze verwandelst und so die Kunst der Metamorphose lernst. Wenn du in einem stillen Eisklumpen unergründliche Geheimnisse entdeckst. Die Schönheit verändert dich Tag für Tag, und doch bleibst du unverändert. Wenn die Schönheit dein Leben begleitet, bist du überall zu Hause. Die Welt, mit den Augen eines Kindes gesehen, ist ein süßer Schmerz. Gesehen mit den Augen eines Schöpfers, ist sie faszinierend und alarmierend zugleich.
II. Dann passierte Puschkin
Dann stellte sich heraus, dass man Liebe erleiden muss. Puschkin kann so märchenhaft, so verführerisch das Liebesleiden beschreiben, dass ich mich mit meiner immensen Liebe zu so diffusen Dingen wie Schönheit auf einmal minderwertig fühlte. Alle um mich herum verliebten sich in echte Menschen, sie flüsterten und litten, wie es sich gehört, und ich – allgegenwärtig, unermesslich… Wenn die anderen nur wüssten, dass ich fliegen kann!
Also musste ich mir selbst Liebe und Frühlingsträume basteln.
Bald würde man mich in die stolzen Reihen der Jungpioniere aufnehmen – da musste ich doch langsam erwachsen werden und mich entscheiden, wer mein Mann und Gott werden soll. Sofort musste ich das entscheiden! Ein Nachbarsjunge war groß und beliebt. Also wurde er zu meinem Onegin und ich zu der armen Tatjana. Meine lebhafte Fantasie stattete den Auserwählten mit so vielen wunderbaren äußeren und inneren Attributen aus, dass es mir ganz leicht fiel, mich in mein Machwerk zu verlieben. Wehe dem, der es damals gewagt hätte, mir zu sagen, diesen Jungen und diese Liebe hatte ich mir bloß ausgedacht!
Großzügig verausgabte ich mich, um diese Illusion zu erschaffen und aufrechtzuerhalten, sammelte fanatisch herzzerreißende Liebesgeschichten und übertrug sie fleißig auf mein eigenes Leben. Um mich ganz der Liebe hinzugeben, durfte ich nicht vollwertig sein. Mein Geliebter wuchs in meinen Augen wie ein Fliegenpilz nach dem Regen – und ich selbst verwandelte mich in eine erbärmliche graue Maus. Dabei hatte er nicht die geringste Ahnung, dass das Mädchen im Fenster auf der anderen Straßenseite einen Gott aus ihm gemacht hatte.
Wie leicht war das Leben doch gewesen, als ich noch in die Schönheit verliebt war, als ich mir allgegenwärtig vorkam! Diese neue, ausgedachte Liebe aber zehrte mich aus, entfernte mich von mir selbst. Nach drei Leidensjahren schrieb ich Tatjanas Brief an Onegin ab, wobei ich ein paar von Puschkins Zeilen durch meine eigenen ersetzte, traute mich aber nicht, den Brief zu unterschreiben. In der Nacht warf ich mein Meisterwerk dem Geliebten in den Briefkasten, damit er mein Schicksal entscheidet und meinem Leiden ein Ende setzt. Drei Tage und drei Nächte lang zerging ich in Unwissenheit. Jeden Abend, wenn das Licht in den Häusern ausgegangen war, rannte ich im Dunklen zu seinem Haus und steckte die Hand in seinen Briefkasten, wo ich eine Antwort zu ertasten hoffte. Und da war sie endlich! Mein Herz klopfte, meine Wangen brannten, meine Füße spürte ich nicht – es war alles wie im Nebel. Wie auch bei Puschkin wollte mein Onegin die namenlose Dichterin nicht haben. Wie bei Puschkin würde sie ihn Jahre später ihrerseits zurückweisen und einen anderen heiraten, doch das ist eine andere Geschichte.
Mit reiner Willenskraft aus einem Menschen einen Gott zu zaubern – und von diesem Gott dann Liebe zu erhalten – hatte sich als ein recht schwieriges Unterfangen entpuppt. Liebe wächst nicht auf fiktivem Boden, und selbst wenn so ein flüchtiges Geschöpf doch sprießt, befruchtet durch Gedichte, Tränen und Leid, wird es doch eines Tages zusammenbrechen wie der Turm zu Babel… Hätte es damals bloß jemanden gegeben, der mir diese einfache Wahrheit klargemacht hätte!
Wirklich verliebt zu sein, hingegen, ist nicht schwer. Die Liebe nährt das Leben und verlangt nichts. Die Liebe erschafft Schönheit, Schönheit erschafft Begeisterung, Begeisterung erschafft Inspiration. Und wenn ich inspiriert bin, fließt Liebe in mich hinein, und ich werde zu ihrem Eingangs- und Ausgangspunkt. Zusammen erschaffen wir neue Schönheit. Schönheit ist der Ort, wo man die Liebe trifft.
III. Zweidimensionale Leere
Die Liebe verführte uns mit wohliger Wärme. Wir verschmolzen in Ekstase ohne Anfang und Ende. Bodenlos blauer Ozean, die heiße Sonne und du – eine Explosion einzigartiger Gefühle.
Ich schaue in die schneeweiße Ferne und sehe deine Augen. Unsere Musik erinnert mich an den heißen Herbst, der nun vorbei ist. Ich blicke in die zweidimensionale Leere der weißen Leinwand – und sehe deine Augen in einem zukünftigen Gemälde. Ich fülle diese Leere mit einem Meer schöner Erinnerungen: Der Wind vergangener Ereignisse wuschelt in deinem Haar; mein leichter Kuss legt einen Schatten auf dein Gesicht. Ich danke dir, Herbst.
Ein besorgter Anruf, und ich bin in deiner Realität: – Ja, ich bin froh, von dir zu hören – Ja, ich liebe dich – Ob ich will? – Natürlich habe ich nichts vergessen – Ja, ja, ja, ich liebe dich noch! – Ich liebe dich – Ich liebe dich – Ich liebe dich noch.
Warum so viele Worte, so viele Fragen? Wenn du willst, dass ich dich höre, schicke mir einfach einen Punkt – und schon bin ich im Geiste bei dir, ich hülle dich mit meinem ganzen Wesen ein, und alle deine Sorgen verschwinden. Du bist unglücklich dort, allein, fern von mir. Ich bin auch allein, fern von dir, aber glücklich mit den Erinnerungen. Wieso?
Doch dann… Entschlossen warf der Winter den rothaarigen Herbst zur Tür hinaus – und löschte mit einer gebieterischen Geste das Licht meiner bunten Palette und meiner Stimmung.
Ich habe keine Lust mehr aufs Fliegen! Zu dem Gemälde komme ich später zurück.
Schneebedeckte Berge. Weihnachten. Anmutige Ruhe – ich höre niemanden – sehe niemanden. Im Auto spielt unsere Musik, und das ist das Leben – das ist Schönheit! Alles ist wirklich nicht so schlimm. Ja, alles ist ziemlich gut! Meine Seele regt sich, erwacht und geht hinaus in die Welt. Meine Flügel spreizen sich – wieder stehe ich vor der Leinwand, schalte das Licht ein, erneuere die Farben, die Schatten huschen in die Ecken. Für einen Moment aus dem Leben aussteigen, in einer unsichtbaren Dimension verschwinden! Der Winter lockert seinen Griff, der Herbst zwinkert mir zu durch die angelehnte Tür.
Ein penetrantes Klingeln stoppt meinen Flug. Ich falle wie ein erschossener Sperling. – Bist du krank? – Nein – Bist du unglücklich? – Gerade noch war ich glücklich – Natürlich liebe ich dich – Ob ich es schwer habe ohne dich? – Ich? – Wieso? – Es ist alles gut – Willst du mich? Jetzt? – Ich weiß nicht – Ob ich dich vermisse? Soll ich denn? – Tut mir leid, vielleicht bin ich ja wirklich nicht gesund.
Zwei Monate später konnte ich unsere Musik nicht mehr hören. Das Gemälde blieb unvollendet, in Erwartung eines Wunders; dabei brauchte es nur noch ein paar Pinselstriche, um lebendig zu werden. Nein, noch geht es nicht.
Warum kann ich mich nicht zwingen, es zu Ende zu malen? Na weil ich weiß: Sobald ich damit fertig werde, bin ich auch mit diesem klebrig-anhänglichen zuckersüßen Herbst fertig. Unser Herbst zieht ins Gemälde. Ein Abgrund tut sich zwischen uns auf, und ich werde anerkennen müssen: Es ist Winter. Das Gemälde kommt dann auf die leere Wand hier, ich werde mich in eine Tagesdecke kuscheln, eine bäuchige Tasse in beiden Händen, und durch den Teedampf das Gemälde ansehen. Lange werde ich es ansehen und mich wundern: Habe ich es wirklich selbst gemalt?
Und wenn ich mich sattgesehen habe, verkaufe ich es.
Wo bleibt denn nun die Liebe? Vielleicht haben wir sie in unserer Ekstase nur geträumt. Oder vielleicht war sie ganz kurz da – floh aber, sobald ich sie malen wollte.
Ich liebe dich, sagst du. Du bist Ich, Ich bin Du, singt die Seele. Doch bevor du es aussprichst, überleg es dir gut. Wir sind am Nullpunkt angekommen, dieser Punkt bringt alles ins Gleichgewicht. Alle falschen Gefühle verschwinden, nicht nur die falsche Liebe, und verborgene Absichten steigen an die Oberfläche – klick, und weg!
Ich liebe dich durchbricht gefrorene Flüsse. Auf einmal willst du nicht mehr die Decke an dich ziehen, die Liebe entfliegt auf der Suche nach Vollkommenheit. Hasch sie, wenn du kannst! Wenn du sicher sein willst, sag: Ich liebe dich – sag es wieder und wieder, versuche zu lieben, so aufrichtig wie du kannst. Siehst du, was passiert? – Alles Falsche, alles bloß oberflächlich aufgetragene, zerfällt, verblasst, deine Liebesworte kommen als leeres Echo zu dir zurück. Jetzt haben diese Worte ihr Werk vollbracht. Der Turm aus Verwirrung und Verstellung stürzt ein. Nichts als Leere.
Aber die gute Nachricht ist: Die wahre Liebe kann alle Dämme brechen und den Indischen Ozean füllen.
IV. Und ich träumte eine Flut
Stolz feiern wir unsere Zusammenkunft, wir stoßen an und frohlocken – auf den Flug! Wir haben alle Bedingungen erfüllt – wir haben uns gefunden. Wir sind erleuchtet, geliebt von allen Göttern. Jede Untiefe haben wir umschifft und das Leben gemeistert. Seht: Wir haben gewonnen! Wer hat so viel wie wir vorzuweisen? Wir sind zwei Hälften einer Seele, zwei Hälften, die Millionen Jahre lange im Dunkeln geirrt hatten, auf der Suche nacheinander zwischen unzähligen anderen Suchenden. Und hier stehen wir nun beide auf diesem Felsen. Wie lange haben wir gebraucht, um hier hinaufzuklettern! Wie schwer wir zu tragen hatten! Immer wieder brachen wir vor Erschöpfung zusammen, doch dann standen wir auf und liefen weiter, und überholten schließlich alle. So viele waren zu schwach, um das Ziel zu erreichen. Aber wir haben es geschafft! Jetzt sind wir zusammen. Sehet, Menschen, wir sind die Besten. Vor uns die Sterne.
Wir halten uns an den Händen auf dem Gipfel einer steilen Klippe. In meinem Sonnengeflecht kribbelt es vor Aufregung: Jetzt kommt etwas lang Ersehntes und doch Unbekanntes. Bevor ich mich von der Klippe stürze, blicke ich zurück, verscheuche den Gedanken, ich wäre noch nicht bereit, mich von meinem Ich zu lösen. Von dem Ich, das mich zu mir macht und mich von anderen unterscheidet. Ich habe es in aller Eile erschaffen, als vorübergehenden Unterschlupf, während ich wartete, dass mir ein zweiter Flügel wächst. Ich selbst bin mein Zuhause. Meine Heimat, meine Gemütlichkeit, von mir selbst erschaffen. Wie viele kalte Winter habe ich hier in meinem Ich ertragen… Und wie viele heiße Sommer… Wie oft verließ ich mein Ich, als ich ein gelbes Licht am Horizont sah. Dieses Licht nannte ich Liebe. Oh, diese Liebe – immer unbefriedigt, immer auf der Suche nach dem Ideal. So oft bin ihr in der Nacht nachgelaufen. Ich wollte mich an ihr festhalten, hoffte auf Unvergänglichkeit. Ich wusste: Es ist nur eine Fata Morgana – und doch versuchte ich es. Ich warf Ballast von meinen Schultern ab, um mehr Kraft zu haben. Und dieser Ballast warst immer du – mein Zuhause.
Dort, hinter meinem Rücken, ist meine ganze Vergangenheit. Trunken vor Aufregung, fand ich nicht mal die Zeit, sie ordentlich einzupacken. Sie liegt da wie ein totes Tier, allen egal. Autos fahren vorbei und drücken sie in den Asphalt, tragen ihre Teilchen weg auf ihren Rädern. Vögel picken das Essbare heraus, und auch alles, was sie für den Nestbau gebrauchen können. Der heiße Wind jagt die Reste über das Tal, sie kullern mit Steppenhexen um die Wette. Dies ist keine würdige Beerdigung für mein Leben sondern eher eine Flucht. Wovor?
Als wir unsere Zusammenkunft feierten, hatten wir vergessen, auf meine Vergangenheit zu trinken, auf mein Zuhause, das mich so lange geschützt hatte. Wir fragten nicht, ob es vielleicht wertvoller geworden ist in diesen Jahren.
Ich öffne meine Hand und mache einen Schritt auf die Sterne zu…
Hinter dem Steingarten geht eine rosa Sonne auf. Die Bäume sind verkohlt. Ich sitze da, umarme einen Stein, über Nacht kühl geworden. Ich will nach Hause – aber was heißt das? Die Erde zittert unter meinen Füßen, ein kalter, klebriger Wind bläst mir ins Gesicht, jeder Schritt kostet mich Überwindung, jeder Schritt… Und dann, da, da ist es! Grüß dich, mein Zuhause. Du wirst mich vor jedem Unwetter beschützen! Ich trete ein und will die Tür hinter mir schließen – doch vergeblich. Der Türrahmen ist krumm, die Tür hängt lose an einem Scharnier. Ich weiß: Hier kann ich nicht mehr leben. Das Haus hat meine Abwesenheit nicht verkraftet; ich kann es nicht reparieren. So lange her, dass ich hier war… Es ist Zeit, zu gehen.
Die Anderen lernen, dass ich gehen will, und strömen in mein Zuhause, um sich vorm heranziehenden Sturm zu retten. Es macht ihnen nichts aus, dass die Tür kaputt ist. Ich schaue mich um, will noch ein Andenken mitnehmen, finde aber nichts als die nackten Wände. Es ist Zeit. Ich dränge mich heraus, an den hereinströmenden Menschen vorbei. Die Tür haben sie niedergerissen. Nun bin ich obdachlos. Der Boden unter meinen Füßen schwankt; eine riesige schwarze Wolke donnert und verzieht sich brodelnd zu einer angespannten Sprungfeder.
Ich lasse mich bäuchlings auf den Weg fallen, spreize die Arme, biete dem Himmel die andere Wange… Soll er doch. Soll er mir doch den Gnadenstoß geben.
V. Zusammen frei
Du warst bei mir angeflogen in der Hoffnung, Dinge, die längst nur noch auf der Leinwand existierten, zum Leben zu erwecken. Schweigend stiegen wir auf einen kleinen Hügel, um die Landschaft zu bewundern.
Schau, wie schön die Vögel fliegen…
Ein riesiger Schwarm von Staren vollführte komplizierte Manöver in einem bis zur Perfektion harmonischen himmlischen Tanz. So viele kleine Augen und Herzen, zu einer Einheit verschmolzen. Wir konnten nicht den Blick abwenden von ihren Flugkünsten.
Sind sie glücklich zusammen, oder denken sie nicht darüber nach?
So stärken sie den Zusammenhalt im Schwarm und bereiten sich auf ihren Flug vor.
Was, wenn ein Vogel den Schwarm verlässt und die Richtung ändert?
Ein anderer nimmt seinen Platz ein; es ändert nichts an dem Tanz.
Und was wird aus dem weggeflogenen Vogel? Versucht niemand von den anderen, ihn einzuholen und zurückzubringen?
Er beschließt eben, wegzufliegen, und das tut er dann auch. Ganz ohne Schuldgefühle.
Wirklich, einfach so, alle verlassen und wegfliegen? Sicher. Es ist seine Entscheidung. Er ist frei.
Oder fliegt er vielleicht weg, um zu sterben? Um als ein neuer, junger, starker Vogel zurückzukehren?
Vielleicht…
Und falls er zurückkommt, wird er dann wieder willkommen geheißen?
Wer kontrolliert den Schwarm? Für wen tanzen sie? Von außen sieht der Schwarm sich nicht, und von innen hat die Frage keine Bedeutung. Hauptsache, sie bleiben im Rhythmus.
Stell dir vor, sie führen gleich auch so philosophische Gespräche wie wir!
Dann fallen sie doch aus dem Himmel! Und wir lachten und lachten.
Sicher, wir werden unseren Herbst vermissen, die unerfüllten Träume, die wir gemeinsam erschufen. Aber dieses Gefühl wird bald vergehen. Es muss. Schließlich ging es in diesen Träumen nicht um mich, sondern um sie – um die Einzige – an deren Stelle zufällig ich war.
VI. Lebenslänglich meiner
Als Kind habe ich mich unendlich geliebt gefühlt. Du hast mich auf Händen getragen, verteidigt und verwöhnt. Du hast mir über Sterne erzählt. Ich vertraute dir alles an, mein Leben, meine Ängste, Geheimnisse, Fragen. Du liebtest mich offen, solange meine Mutter da war, und insgeheim, nachdem du eine andere geheiratet hattest. Und dann bist du für immer verschwunden. Ich betrat mein Leben ganz allein, mit niemandem als meinem Gott.
Ich laufe durch mein Leben und suche den einen, der mir Liebe und Wärme gibt.
Männer. Männer. Sie ziehen an meinen Armen, zerren mich in ihr Leben. Alle wollen sie etwas. Ich bleibe stehen, schaue genau hin, berühre sie, rieche an ihnen. Wieder der Falsche. Wie Gleisschwellen liegen sie auf meinem Weg. Einer nach dem anderen. Schon gut, dass nichts passt, schon gut. Dafür habe ich noch einen Schritt vorwärts gemacht. Ich passe mich an. Dies sind schließlich Männer, sie haben starke Knochen. Ich brauche sie – alle – um meinen Weg zu bauen.
Wohin?
Nirgendwohin.
Ich brauche den Weg, um vorwärtszukommen. Ganz ohne Weg geht es doch nicht. Ein Mann gab mir den Schub ins Leben. Hielt mich fest, ließ mich nicht als Blut die Erde durchtränken. Nun bin ich hier. Ich gehe, ich laufe, ich renne – über die Gleisschwellen.
Wo bleiben denn die Schienen?
Es gibt wohl keine. Deswegen muss ich immer so stolpern! Mit Schienen wäre alles bestimmt einfacher. Längst wäre ich geflogen. Über der Erde würde ich schweben, wenn er mit mir wäre.
Der Mann meines Lebens ist ein unsicherer Junge. In der ersten Klasse hatte ich mich verliebt, und Jahrzehntelang ließ es mich nicht los. Ein Schatten dieser Verliebtheit lebt immer noch in meiner Seele, ich spüre es, wenn ich an meine Kindheit denke. Ein Augenblick – und du bist wieder hier, du lachst. Ich dachte damals, dein Lachen wäre spöttisch. Jetzt denke ich, es war aufgeregt, unsicher.
Ich werde älter… Nun liegst du als Schwelle auf meinem Weg. Als viele Schwellen. Immer wieder habe ich sie verschoben, eine Brücke daraus gemacht, wenn sich vor mir ein Abgrund auftat. Ich dachte an dich, entriss dich der Vergangenheit und legte dich als Schwelle unter meine Füße. Es half.
Dann geschah eine Veränderung mit dir. Du lachtest nicht mehr. Du wurdest kleiner. Ich zerbrach an deiner Aggression. Ich gab auf. Ich wurde Mutter. Du wurdest zu einer neuen Schwelle. Es war schwer für dich, ich weiß. Und jetzt ist es noch schwerer. Du konntest uns nicht halten. Deine Knochen knarrten und brachen. Deine Arme waren nicht stark genug. Es ist schwer, eine Brücke fürs Leben für seine Kinder und ihre Mutter zu sein. Auch deine Tochter verlor das Gleichgewicht, und dein Sohn hat noch nicht gelernt, stark zu sein – er bemüht sich aber. Er bemüht sich sehr.
Ich, ich lebe noch. Ich bewege mich noch. Ich bin stark. Ich halte durch. Doch ich brauche Fürsorge und Zuneigung, Liebe und Unterstützung. Diese Sehnsucht wird nie vergehen.
Mein Mann fürs Leben – du bist so viele, dass ich mich verzähle, und der Weg endet nie, und immer noch bin ich nicht flügge.
Wen suche ich? Dich oder mich selbst… Ich bin mir nicht ganz sicher, was ich tue oder wohin ich gehe. Aber eines weiß ich ganz sicher: Diesen Weg, den ich gehe, gehe ich liebend.
Sammendrag
Dette selvbiografiske essayet, delt inn i seks deler, beskriver forfatterens åndelige og emosjonelle reise fra barndommen til voksenlivet.
- I barndommen søker forfatteren skjønnhet i verden og drømmer om guddommelig kjærlighet.
- I ungdommen opplever hun sin første romantiske forelskelse, inspirert av Pusjkins poesi.
- Deretter følger erfaringer med voksne forhold, der illusjonene om kjærlighet møter virkeligheten.
- Forfatteren reflekterer over jakten på den perfekte kjærligheten og selvinnsikt.
- Et øyeblikk av bevissthet om frihet i relasjoner og aksept for forandring blir beskrevet.
- Essayet avsluttes med refleksjoner om letingen etter «mannen i livet», og erkjenner at denne letingen er en vei til selvinnsikt.
Gjennom hele fortellingen går temaene kjærlighet, skjønnhet, selvinnsikt og åndelig vekst.